Am Beispiel der Aufgabe „Vergleichen von Geschwindigkeiten" werden verschiedene Grundpositionen des Lehrens und Lernens dargestellt: In einigen Videos versucht der Lehrer, durch fragend-entwickelnden Unterricht die Kinder Schritt für Schritt zur Lösung zu bringen. In den anderen Videos arbeitet die Lerngruppe im Anschluss an die Erklärung des Problems eigenständig. Die Schülerinnen und Schüler strukturieren und lösen das Problem hierbei selbst.

Ausgewählte Fragestellungen geben Anlass zur Reflexion verschiedener Aspekte dieser Grundpositionen.

1. Wer fuhr mit dem Fahrrad am schnellsten?

Eigenaktivität

Viertklässlern wurde folgende Aufgabe gestellt:

Abbildung einer Aufgabenstellung: „Wer fuhr mit dem Fahrrad am schnellsten?“. Tabelle mit 2 Spalten und 5 Zeilen. Spalte 1: „Zurückgelegte Strecke“, Spalte 2: „Fahrtzeit“. Zeile 1: „Peter: 30 Km, 1 Stunde, 30 Minuten“. Zeile 2: „Jens: 30 Km, 2 Stunden“. Zeile 3: „Bernd: 40 Km, 1 Stunde 30 Minuten“. Zeile 4: „Uwe: 40 Km, 2 Stunden“.
 

Wer fuhr Ihrer Meinung nach am schnellsten?

2. Wie kann Lernen gelingen? - Zwei divergente Grundpositionen

Im Folgenden sehen Sie zwei Videos, in denen Viertklässler von einem Lehrer den Auftrag erhalten, die obige Aufgabe zu lösen.

Eigenaktivität

Schauen Sie sich nacheinander beide Videos an. Welcher der beiden Unterrichtsstile gefällt Ihnen besser? Begründen Sie Ihre Antwort!

3. Hintergrundwissen zum entdeckenden Lernen

Lehren in der Schule geschieht häufig in der Annahme, der Stoff würde von den Lernenden so aufgenommen und gespeichert werden, wie er dargestellt wird. Guter Mathematikunterricht - so eine weit verbreitete Ansicht - zeichne sich vor allem dadurch aus, dass der Lehrer gut erklären kann. Entsprechend würden vermutlich viele Personen Beispiel1 (siehe oben) für besonders gelungen halten. Der Lehrer gibt das Ziel des Lernens vor und erfragt die Lösung Schritt für Schritt. Die Schüler folgen dem "Frage-Antwort-Spiel" und antworten der Reihe nach auf die vom Lehrer gestellten Fragen. "Mit dieser Kleinschrittigkeit soll Kindern das Lernen erleichtert und der Unterricht ökonomisiert werden" (Brüggelmann 2001, S. 54). Diese Annahme erweist sich - wie wir aus der Lernpsychologie wissen - jedoch als problematisch (vgl. Wahl; Weinert & Huber 2001, S. 46f). Selbst wenn aktives Zuhören gewährleistet ist, so bedeutet dies noch längst nicht, dass die Kinder den Gedankengängen des Lehrers oder der Lehrerin auch (inhaltlich und sprachlich) wirklich folgen können und deren Erläuterungen verstehen. Darüber hinaus werden die aufgenommenen Wissensinhalte nicht fest in das eigene Wissen integriert, sodass lediglich träges Wissen entsteht (vgl. Renkl 1996). Träges Wissen kann nur in einer der konkreten Unterrichtssituation sehr ähnlichen Situation angewandt werden, jedoch nicht auf veränderte Situationen übertragen werden (vgl. Schütte 2008, S. 51).

Demgegenüber steht der Unterrichtsstil im zweiten Beispiel. Nach einer kurzen Klärung des Arbeitsauftrages müssen die Kinder die Aufgabenstellung selbstständig lösen. Sie erhalten die Möglichkeit sich ohne ständige Zwischenfragen der Lehrkraft und ein vorgegebenes kleinschrittiges Vorgehen mit dem Problem auseinanderzusetzen. Die Kinder sind aufgefordert sich selbst Gedanken zu machen, wie sie die Aufgabe lösen können. Dazu müssen sie auf ihr bereits erworbenes Wissen zurückgreifen und dieses auf die gegebene Aufgabe übertragen. Die Lehrkraft nimmt sich bewusst zurück und gibt der Eigendynamik des Lösungsprozesses Raum. Hierdurch kann durch die aktive Wissenskonstruktion vernetztes Wissen entstehen.

Hinter den beiden Beispielen stecken zwei verschiedene Auffassungen vom Lehren und Lernen (vgl. Winter 1991). Die erste - heute zumindest bezogen auf das schulische Lernen als veraltet geltende - Sichtweise geht davon aus, dass Lernen durch eine passive Aufnahme von Wissen vollzogen werden kann (= passivistische Grundposition des Lernens). Die andere geht davon aus, dass Lernen ein subjektiver, aktiv-entdeckender und konstruktiver Prozess ist (= aktivistische Grundposition des Lernens).

Aber warum gilt die erste Sichtweise eigentlich als veraltet? Um verständiges Wissen aufzubauen, muss das Individuum in enger Anlehnung an den Konstruktivismus eigenaktiv die Zusammenhänge erforschen, erfahren und damit selbst entdecken. Dabei konstruiert es seine Wirklichkeit aufgrund von seinen Erfahrungen mit der Außenwelt und in der Kommunikation mit anderen.

4. Zur realistischen Einschätzung der aktivistischen Grundposition

Die Hauptaufgabe der Lehrkraft im aktivistischen (aktiv-entdeckenden) Unterricht liegt nicht in der Vermittlung des Stoffes, sondern in der Organisation der Schüleraktivitäten. "Die Schüler sollen so weit wie möglich selbst die Initiative ergreifen und sich aktiv mit dem Stoff auseinandersetzen. Der Lehrer hat Voraussetzungen zu schaffen und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten" (Wittmann 1995, S. 15). Es ist ganz natürlich, dass Kinder im Lernprozess an einer bestimmten Stelle nicht weiterwissen oder Fehler begehen, hier ist es die Aufgabe der Lehrkraft durch gezielte Impulse - ohne dabei die Lösung zu verraten - die Kinder im Lernprozess zu unterstützen. Das folgende Video zeigt Ihnen, wie eine solche Unterstützung aussehen kann:

Beispiel 5

Der Begriff "aktiv-entdeckendes Lernen" wird in der Praxis häufig missinterpretiert:

1. Aktiv-entdeckendes Lernen ist nicht mit körperlicher Aktivität gleichzusetzen. Der wichtigere Part beim aktiv-entdeckenden Lernen ist die mathematisch-geistige Aktivität der Kinder in der das Entdecken von Zusammenhängen im Mittelpunkt steht. Bei der Aufgabe aus Kapitel 1 zeigt sich dies u. a. im Entdecken von Zusammenhängen zwischen Zeit und Strecke und dem Finden von Lösungswegen. Entsprechend sind das Hüpfen von Plusaufgaben, das Ausmalen eines Rechenbildes und Aktivitäten wie Eckenrechnen nicht im Sinne des aktiv-entdeckenden Lernens.

2. Nicht alles kann aktiv-entdeckend gelernt werden. So gibt es im Mathematikunterricht bestimmte Konventionen, Bezeichnungen, Sprech- und Schreibweisen oder auch die Rechenvorschriften in Aufgabenformaten, die nur in Ansätzen selbst erschlossen werden können. Dies muss die Lehrperson im Unterricht berücksichtigen.

5. Weiterführende Aufgabe

Eigenaktivität

Überlegen Sie sich zu anderen Themenbereichen selbst gute Unterrichtsbeispiele oder Aufgaben, bei denen die Kinder aktiv-entdeckend lernen können. Falls Sie keine eigenen Ideen haben, schauen Sie doch mal in ein Schulbuch oder auf der Website PIKAS: Unterrichtsmodul - Gute Aufgaben des Projektes PIK AS nach.

6. Verwandte Themen

Die Materialien in Haus 8 'Guter Unterricht' des Projekts PIK AS geben Anregungen für die Weiterentwicklung einer lernförderlichen Unterrrichtskultur in Mathematik.

Ein Beispiel für mögliche Unterstützungen von Erst- und Zweitklässlern in der Arbeit mit Entdeckerpäckchen finden Sie im PIKAS: Fortbildungsmodul: Entdecken, Beschreiben, Begründen. Im PIKAS: Fortbildungsmodul: Sprachbildung können Sie sich zudem den Themenfilm 'Wortspeicher' anschauen, in dem ein methodischer Ansatz zur gezielten Unterstützung der Kinder beim Erlernen mathematischer Fachsprache vorgestellt wird.

Bei der Gestaltung eines Mathematikunterrichts, der sich an dem Prinzip des entdeckenden Lernens orientiert, besteht eine große Herausforderung in der adäquaten Organisation der Schüleraktivitäten. Dabei ist der behutsame und sinnvolle Einsatz von Anschauungsmaterialien sehr wichtig, da sie die Schüleraktivitäten unterstützen können. Allerdings müssen die mathematisch-geistigen Aktivitäten im Vordergrund stehen und demzufolge sollte der Materialeinsatz wohlüberlegt sein. Genauere Informationen zum Materialeinsatz finden Sie auf der Homepage des Projektes PriMakom („Primarstufe Mathematik kompakt“). Dabei handelt es sich um eine Selbstlernplattform für Lehrerinnen und Lehrer, die Mathematik fachfremd unterrichten und sich somit mathematikdidaktische Kenntnisse in kompakter Form aneignen möchten.
Darüber hinaus finden Sie auf der Selbstlernplattform ein interessantes Informationsvideo, das noch einmal verdeutlicht, wie die Kinder mithilfe von Material den Weg vom Konkreten zum Abstrakten bestreiten können und warum eine sogenannte „Materialschlacht“ keinen Beitrag zum entdeckenden Lernen leistet.

7. Literatur