So wie die Worte „Kunst“ und „Musik“ nicht nur für etwas schon Fertiges stehen – die Bilder oder die Musikstücke – sondern auch für das, was Künstler und Musiker tun, nämlich malen und musizieren, so steht „Mathematik“ auch für eine Tätigkeit, bei der Intuition, Phantasie und schöpferisches Denken beteiligt sind, man durch eigenes und gemeinschaftliches Nachdenken Einsichten erwerben und Verständnis gewinnen kann und selbstständig Entdeckungen machen und dabei Vertrauen in die eigene Denkfähigkeit und Freude am Denken aufbauen kann
Spiegel & Selter 2003, S. 47

Wenn man Mathematik in dieser Art und Weise versteht, bedeutet das für die Schule, dass diese Aktivität - „Mathematik betreiben“ - auch zentrales Gestaltungsprinzip von Unterricht sein sollte. Die Bildungsstandards zeigen mit der Formulierung der allgemeinen oder prozessbezogenen Kompetenzen neben den inhaltsbezogenen Kompetenzen, dass entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht von großer Bedeutung ist. Im Lehrplan NRW wird das folgendermaßen formuliert:

Den Aufgaben und Zielen des Mathematikunterrichts und dem Wesen der Mathematik wird in besonderer Weise eine Konzeption gerecht, in der das Mathematiklernen durchgängig als konstruktiver, entdeckender Prozess verstanden wird. Fehler gehören zum Lernen. Sie sind häufig Konstruktionsversuche auf der Basis vernünftiger Überlegungen und liefern wertvolle Einsichten in die Denkweisen der Schülerinnen und Schüler
MSW NRW 2008, S. 55

Grundlage dieser Formulierungen ist ein konstruktivistisches Verständnis von Lernen. Danach ist Lernen immer eine Eigenkonstruktion des Individuums und nicht das Abbilden der Umwelt im Kopf. Heinrich Winter betont dazu, dass „Verstehen ... ein aktiver, ein schöpferischer Prozess [ist], den man zwar durch eine geeignete Lernumgebung von außen begünstigen kann und freilich auch muss, den man aber nicht einfach (durch gutes Erklären) beliebig herbeiführen kann“ (Winter 1984, S. 27). Für das Lehren von Mathematik bedeutet das, dass es um das Arrangieren von günstigen Lernbedingungen geht und nicht darum, kleinschrittig gestuftes Wissen zu vermitteln.

Damit beschränkt sich entdeckendes Lernen nicht auf eine zweitrangige methodische Einzelentscheidung, sondern stellt ein umfassendes didaktisches Konzept dar
Winter 1984, S. 26

Merkmale der gegensätzlichen Grundpositionen nach Winter

Winter (1991) stellt einige wesentliche Aspekte der gegensätzlichen Grundpositionen heraus:

Lernen durch Belehrung (Passivistische Grundposition) Lernen durch Entdeckenlassen (Aktivistische Grundposition)
Die Lehrperson
  • verlässt sich auf Methoden des Vormachens/Erklärens.
  • sieht die Schüler und Schülerinnen als Objekte der Belehrung, die geformt werden müssen.
  • versteht sich als Wissensvermittler.
  • geht kleinschrittig vor und baut auf die Isolation von Schwierigkeiten.
  • bietet neuen Stoff dar oder präsentiert ihn im fragend-entwickelnden Unterricht.
  • gibt Hilfen als Hilfen zur Produktion der erwarteten Antwort.
  • versucht nach Kräften, das Auftreten von Fehlern zu vermeiden.
  • erwartet primär korrekte Resultate.
Die Lehrperson
  • setzt auf herausfordernde Aufgaben und Eigenaktivität der Schüler und Schülerinnen.
  • sieht die Schüler und Schülerinnen als Subjekte, die ihren Lernprozess mit steuern können.
  • fühlt sich für die Gesamtentwicklung der Kinder verantwortlich.
  • macht Beziehungsreichtum der Lerninhalte sichtbar.
  • ermuntert zum Beobachten, Fragen, Probieren, Erkunden, Darstellen, ...
  • gibt Hilfen als Hilfen zum Selberfinden.
  • versucht, Fehler gemeinsam mit den Lernenden zu analysieren.
  • thematisiert Lösungswege.
Überprüfen Sie, inwiefern die einzelnen Aspekte in den folgenden Videos zu beobachten sind.
Beispiel 3
Beispiel 4

Ordnen Sie die beiden Videos begründet den Grundpositionen des Lehrens und Lernens zu.

Unterrichtsgestaltung nach dem Prinzip des entdeckenden Lernens

 Winter (1984) benennt vier Phasen, die für eine gelingende Unterrichtsgestaltung  von Bedeutung sind:

  1. Angebot einer „Herausfordernden Situation“ (Problem-/Aufgabenstellung entwickeln)
  2. Eigenständige Entwicklungen von Lösungen durch die Schüler (Begriffsbildungen/ Lösungsverfahren entwickeln in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit)
  3. Vorstellung und Sammlung der Ergebnisse durch die Lösenden (Integration und erste Ausgestaltung vielfältiger Beziehungen)
  4. Arbeitsergebnisse bündeln, zusammenfassen, ordnen, korrigieren (Reflexion der Lösungszugänge und Heurismen, Organisation und gezielte Versuche des Transfers).

An einem einfachen Beispiel sollen diese Phasen konkretisiert werden:
Thema: Zahlenraumerweiterung im 2. Schuljahr (vgl. Unterseiten zum Stellenwertverständnis und zur Zahlraumerweiterung)

  1. Eine große Menge unstrukturierten Materials (Plättchen, Steckwürfel, Perlen, Streichhölzer, Muggelsteine, ...) wird den Kindern gezeigt. Impuls: „Wie viele (Plättchen, Steckwürfel, Perlen, Streichhölzer, Muggelsteine....) sind das? Wie kannst du geschickt zählen?“
  2. Kinder arbeiten in kleinen Gruppen/zu zweit/alleine und versuchen, die Menge zu bestimmen. Dabei gibt es unterschiedliche Herangehensweisen:
Foto zum Zählen einer Menge unstrukturierter Plättchen. Links unstrukturierter Haufen an blauen Plättchen. Rechts unstrukturierter Haufen blauer Plättchen. Mittig: ein blaues Plättchen auf das ein Finger zeigt.
Kinder zählen drauflos, verzählen sich
Foto zum Zählen von Steckwürfeln. Rechts: unstrukturierte Menge an Steckwürfeln. Links: 6 unterschiedlich lange Türme mit Steckwürfeln jeweils einer Farbe.
Kinder bilden Gruppen unterschiedlicher Größe
Foto zum Zählen von Holzwürfeln. Rechts: Glas mit vielen Holzwürfeln. Links: 4 Haufen mit jeweils 10 Holzwürfeln.
Kinder zählen immer bis 10
Foto zum Zählen von Plättchen. Links: unstrukturierter Haufen an Plättchen. Rechts: 5 Schachteln, in die jeweils 10 Plättchen gelegt wurden.
 
Foto zum Zählen von Bonbons. Rechts: Unstrukturierter Haufen an Bonbons. Links: Hier wurden jeweils 10 Bonbons auf Pappe gelegt und mit einem Stift eingekreist.
Kinder basteln sich Sortierkisten/Vorlagen

Dabei werden sie aufgefordert, auch bei den anderen zu schauen, Ideen auszutauschen (auch möglich: zunächst Einzelarbeit, dann Austausch in der Mathekonferenz). Die Lehrkraft gibt Impulse (auch möglich: entsprechende Tippkarten).

Illustration zum strukturierten Zählen einer Menge. Lehrkraft mit 3 Sprechblasen: „Wie kann ich das Zusammenzählen (der Haufen) leichter machen?“, „Wie kannst du verhindern, dass du dich immer wieder verzählst?“, „Kannst du die Menge so ordnen, dass andere sofort sehen, ob deine Zahl stimmt?“.

3. Die Ergebnisse werden vorgestellt und besprochen, die Lehrkraft fokussiert
wichtige Aspekte geschickter Lösungen, z.B. verschiedene
Sortierungen/Bündelungen, Verknüpfung der 10er-Bündelung zur
Schreibweise der Zahlen, Bezüge zu den (bekannten) Zahlen bis 20
4. Bündelung von „immer 10“ wird erarbeitet und an Stellentafel eingetragen
(evtl. schon Ausblick auf die weiterführende Struktur des Zahlenraums über
den Tausender hinaus)
Deutlich wird hier, dass es nicht darum geht, die Kinder mit der gestellten Aufgabe völlig allein zu lassen, sondern dass die Lehrperson es durch eine vorbereitete Lernumgebung und durch gezielte Impulse möglich macht, dass Kinder die mathematischen Strukturen entdecken können, die dem Stellenwertprinzip zugrunde liegen.
Dabei wird an das Vorwissen der Kinder angeknüpft (viele können bis 100 oder darüber hinaus zählen, sie können Mengen bestimmen, sie wissen, dass z.B. 15 aus einem Zehner und 5 Einern zusammengesetzt ist, usw). Es geht also nicht darum, etwas komplett Neues zu erfinden.
Auf den Seiten zu „Übergreifendes“, zu den Inhalten und auch bei den Aufgabenformaten finden Sie vielfältige Beispiele, wie entdeckendes Lernen umgesetzt werden kann (z.B. auf der Seite „Heterogenität“ zum Thema Umkehrzahlen, auf der Seite „Zufall und Wahrscheinlichkeit“ zum Thema Wahrscheinlichkeiten von Würfelzahlen oder auch auf den Seiten zu den verschiedenen Aufgabenformaten).
Auch in dem folgenden Sinusmodul

Mehr Kenntnisse und Fertigkeiten

von Christoph Selter werden viele Unterrichtsbeispiele vorgestellt (Selter 2004).
Natürlich gibt es auch Unterrichtsinhalte, die die Kinder nicht in diesem Sinne „entdecken“ können, beispielsweise bestimmte Konventionen und Begriffe oder auch die schriftlichen Rechenverfahren.