Sehen lernen – Zahlblickschulung von Anfang an

Kinder sollen flexibel rechnen – dieses Ziel ist fest in den Bildungsstandards und den Lehrplänen der einzelnen Länder verankert. Doch was genau bedeutet es eigentlich, „flexibel“ zu rechnen und warum ist das wichtig? Was müssen Kinder können, um Rechenmethoden und Rechenstrategien aufgabenbezogen und somit flexibel zu nutzen? Und was bedeutet das für meinen Unterricht?

Flexibles Rechnen – Kompetenzerwartungen und Definition

Im Lehrplan für NRW (MSW 2008) werden folgende Kompetenzerwartungen im Bereich „Zahlen und Operationen“ unter dem Schwerpunkt ,,Flexibles Rechnen“ formuliert:

Flexibles Rechnen wird in der Literatur nicht immer einheitlich definiert. Jedoch beziehen sich die meisten Definitionen auf die auch in den Kompetenzerwartungen berücksichtigten Grundgedanken. Es wird beschrieben als das „situationsabhängige, individuelle Reagieren auf spezifische Aufgabenmerkmale, verbunden mit der Konstruktion von Vorgehensweisen während des Lösungsprozesses“ (vgl. Rathgeb-Schnierer 2010, S. 261).

Es handelt sich also um ein aufgabenadäquates Handeln, das eine „differenzierte Wahrnehmung von spezifischen Aufgaben- und Zahlbeziehungen“ voraussetzt. „Flexibles Rechnen“ beschreibt somit die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Methoden und/ oder Strategien die für die Lösung der jeweiligen Aufgabe am besten Passende (bewusst oder unbewusst) auszuwählen.

Wenn man Rechenaufgaben löst, trifft man intuitive Entscheidungen für den möglichen Lösungsprozess. Bezüglich der Wahl der Rechenmethode muss entschieden werden, ob sie durch geeignete Strategien

  • des Kopfrechnens
  • des Kopfrechnens gekoppelt mit der Notation einzelner Rechenschritte bzw. Zwischenergebnisse, also halbschriftlich
  • durch die Nutzung von schriftlichen Verfahren

gelöst werden.

Jedoch beschränkt sich flexibles Rechnen nicht nur auf die Wahl einer geeigneten Rechenmethode (‚Rechne ich im Kopf oder schriftlich?‘). So müssen sich Kinder auch innerhalb des Zahlenrechnens (z.B. des halbschriftlichen Rechnens) zwischen unterschiedliche Rechenwege entscheiden (‚Rechne ich schrittweise oder stellenweise?‘) (vgl. das Selbstlernmodul Halbschriftliche Rechenstrategien)

Dabei ist die Wahl auch abhängig vom Lernstand der Kinder und der Klassenstufe. So spielen die schriftlichen Rechenverfahren z.B. erst nach Klasse 2 eine zentrale Rolle. In Bezug auf die halbschriftlichen Rechenstrategien bedeutet das jedoch, dass Kinder auch schon vor der Einführung der schriftlichen Rechenverfahren über unterschiedliche Lösungswege nachdenken sollen. Im Folgenden wollen wir jedoch den Fokus auf die Wahl einer geeigneten Rechenmethode legen.

Je nachdem für welche Methode „man“ sich entscheidet, müssen weitere Entscheidungen (meist unbewusst und schnell) getroffen werden, die das genaue Betrachten der Aufgabe erforderlich machen (vgl. Rathgeb-Schnierer 2005, S. 19): 

  • Welche Regeln gelten innerhalb der Operation? (z.B. Kommutativität oder Konstanzgesetze)
  • Ist das Ergebnis evt. schnell sichtbar?
  • Gibt es einen besonders geschickten Weg?​

Aufgabenadäquates Handels meint dann nicht, dass genau der eine am besten passende Lösungsweg für eine Aufgabe gefunden wird, denn diesen gibt es häufig nicht. Es heißt vielmehr, dass im Lösungsprozess die Aufgabe betrachtet, Aufgabenmerkmale, Zahleigenschaften und Zahlbeziehungen gesehen und für die Lösung der Aufgabe genutzt werden. Die Wahl einer Lösungsstrategie ist dann individuell und auch von eigenen Präferenzen abhängig, denn was für das eine Kind vorteilhaft ist, ist es nicht gleichzeitig auch für ein anderes ebenso!

Die Voraussetzungen zur Entwicklung flexibler Rechenstrategien

Eigenaktivität

Schauen Sie sich die Aufgaben an und entscheiden Sie, welche der Aufgabe Sie im Kopf und welche würden Sie eher schriftlich rechnen würden.

a) 534-367

b) 780-299

Überlegen sie: Was ist das besondere an der jeweiligen Aufgabe, dass sie diese Entscheidung getroffen haben?


Im Kontext des flexiblen Rechnens wird oft von diesem sogenannten „Zahlen- und Aufgabenblick“ gesprochen, der die oben angesprochenen Entscheidungen ganz bewusst beeinflussen soll. Er impliziert dabei vielfältige Kenntnisse über Zahl- als auch Aufgabeneigenschaften und –beziehungen und soll dabei helfen, „verallgemeinerbare Aspekte in Situationen zu erkennen, Strukturähnlichkeiten zwischen bereits gelösten und neuen Aufgaben zu entdecken und strategische Vorgehensweisen zu übertragen“ (Schütte 2008, S. 103). 

Zahlen müssen in einer Aufgabe dafür zugleich als Ganzes für sich (z.B. ‚299’ liegt nah an einem glatten Hunderter) und in ihrer Beziehung zu anderen Zahlen gesehen werden (z.B. ‚401 und 398 liegen sehr nah beieinander’). Die Zahlenmerkmale und ihre Beziehungen in der jeweiligen Aufgabe müssen in Bezug auf die vorzunehmende Operation wahrgenommen werden, Zahlen und Aufgaben sollen dann geschickt zerlegt, verändert, ausgeglichen und zusammengesetzt werden, mit dem Ziel, sich einen „Rechenvorteil“ zu verschaffen, sich die Aufgabe „einfacher“ zu machen bzw. geschickt zu rechnen.

Dieses komplexe aufgabenadäquate Handeln zeigt sich dann nicht nur im Erkennen der jeweiligen Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen (1), sondern auch darin, dass sie diese die Nutzung und Kombination der Lösungswerkzeuge beeinflussen (2) und dann auch für die explizite Lösung der Aufgabe herangezogen werden (3).

So zeigt sich im Fall von Marleen aus dem Einstieg deutlich, dass sie die Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen zwar erkannt hat (1), diese aber nicht explizit für ihre vorrangig gewählte Lösung der Aufgabe genutzt wurden (3).)

Für uns gelten in diesem Zusammenhang Fähig- und Fertigkeiten in folgenden Bereichen als grundlegend bzw. als Voraussetzung, um diese Merkmale und Beziehungen zu erkennen, sich diese zu Nutze zu machen um auf dieser Basis dann flexibel zu rechnen:

 

  • Zahlverständnis (siehe dazu „Zahlvorstellungen aufbauen“)
  • Operationsverständnis (siehe dazu ,,Operationsverständnis aufbauen“)
  • Automatisierung von Basisfakten z.B. das Auswendigwissen möglichst vieler Grundaufgaben des kleinen Einsplusein und Einmaleins (siehe dazu „Kopfrechnen“)
  • Verfügen über Strategisches Werkzeug z.B. Ausnutzen von geltenden Rechengesetzen; Nutzen von Umkehrungen, Hilfsaufgaben oder Analogien
  • Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen erkennen​

Konsequenzen für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen

Dies bedeutet, dass der Aufbau von Zahlvorstellungen und ein gesichertes Operationsverständnis die Basis für flexibles Rechnen darstellen und der Aufbau strategischer Werkzeuge auf diesen fundierten Kenntnissen fußen muss. Somit ist es grundlegend, diese Fähig- und Fertigkeiten von Anfang an zu schulen und zu festigen. 

„Mathematisch anspruchsvolles Lernen, das flexibles aufgabenadäquates Rechnen zum Ziel hat, muss somit langfristig angelegt sein. Dafür sind in Anlehnung an die oben genannten Voraussetzungen u.a. Aktivitäten für folgende „Zielbereiche“ notwendig (vgl. Schütte u.a. 2002):

  • das Zahlgefühl anschaulich entwickeln
  • das Operationsverständnis festigen und dabei Einsicht in Operationseigenschaften entdecken
  • eigene Rechenstrategien entwickeln und andere nachvollziehen
  • Zahl- und Aufgabenbeziehungen erkennen
  • Aufgabentypen erkennen
  • Rechenmethoden und –strategien aufgabenadäquat verwenden und diesen Prozess reflektieren 

Für einen Unterricht, der Kinder auf dem Weg zum flexiblen rechnen fordern und fördern will, müssen Lernangebote zur Zahlenblickschulung so angelegt sein, dass das Rechnen der Aufgaben zugunsten von strukturellen Betrachtungen im Hinblick auf spezifische Eigenschaften und Beziehungen zurückgestellt wird. Denn der „besondere Blick“ für Zahlen und Aufgaben kann nur dann entwickelt werden, wenn auch hingeschaut wird.

Das „Hinschauen“ ist dabei der erste Schritt - dies allein reicht aber nicht aus, sondern das Erkennen und Benennen der besonderen Eigenschaften und Beziehungen sowie die Reflexion des Entscheidungsprozesses für Lösungswege müssen als Fähigkeiten geschult werden und somit in den Vordergrund rücken.

Für die Entwicklung von Flexibilität reicht es dabei nicht aus, wenn die Kinder eine oder mehrere Musterlösungen nachvollziehen und auf andere Aufgaben anwenden können. Flexibles Rechnen lässt sich nämlich nicht durch die Vermittlung von Musterlösungen anbahnen. Auch dürfen die schriftlichen Rechenverfahren nicht als Königswege angesehen werden, sondern als eine von mehreren Möglichkeiten geschickt und schnell zur Lösung einer Aufgabe zu kommen.

Ob ein Kind aufgabenadäquat handelt, lässt sich somit aufgrund eines richtigen Ergebnisses nicht beurteilen. Auch besteht ein wesentlicher Unterschied darin, ob ein Kind seinen Lösungsprozess auf ein „gelerntes“ Verfahren oder auf erkannte Aufgabenmerkmale und Zahlbeziehungen stützt. Es reicht also nicht aus, zu schauen ob ein Kind beim Rechnen verschiedene Lösungswerkzeuge nutzt, denn das Kind könnte dies auch tun, weil ihm jemand verschiedene Tricks rezeptartig beigebracht hat. Dies wird oft erst deutlich, wenn gewisse „Tricks“ übertragen werden auf Fälle, in denen sie keine Gültigkeit haben. 

Folgende Fragen können dabei helfen einzuschätzen, inwiefern die Schüler flexibel Rechnen:

  • Wirkt die Vorgehensweise des Kindes willkürlich und weitgehend unverstanden, fast „mechanisch“?
  • Wird durchgängig ein Lösungsweg beschritten, den das Kind erklären kann?
  • Weicht das Kind bei prägnanten Aufgaben von seinem Lösungsweg ab oder nicht?
  • Kann das Kind seine Abweichungen begründen oder nicht?
  • Tauchen verschiedene Vorgehensweise auf, die erklärt werden können?
  • Kann das Kind seine verschiedenen Vorgehensweisen begründen?
  • Werden zur Begründung spezifischen Aufgabenmerkmale herangezogen oder nicht?

Der Blick muss somit auf das Vorgehen beim Rechnen, also den Lösungsprozess gerichtet werden. Dies verlangt für den Unterricht nach einem „Nachfragen“ und der Einforderung von „Begründungen“ auf der Grundlage von Kriterien.
Diese Grundgedanken sollen in dem auf der folgenden Seite ausgeführten Unterrichtsvorhaben verdeutlicht werden.