Räumliche Orientierung schulen - Was alles dazu gehört

Sich selbst in der Umwelt wahrzunehmen, sich zu orientieren und Gegebenheiten räumlich in Beziehung zu setzen, erfordert ein ausgeprägtes Raumvorstellungsvermögen. Die Förderung der dazu benötigten Fähigkeiten ist ein grundlegendes Ziel des Geometrieunterrichts in der Primarstufe.

In Anlehnung an die ersten Fragen aus dem Einstieg soll auf dieser Seite folgenden Punkten nachgegangen werden:

Räumliches Orientierungsvermögen als Komponente der Raumvorstellung

Unser Denken, unsere kognitiven Kompetenzen, bedienen sich visueller und damit geometrischer Stützen. So ist auch die intellektuelle Entwicklung eng verbunden mit den Fähigkeiten, visuell dargebotene Informationen aufzunehmen, zu analysieren, zu speichern und mit ihnen in der Vorstellung zu operieren.

Um zum Beispiel auf Stadtplänen die nächste Sehenswürdigkeit auf kürzestem Weg zu erreichen, den eigenen Standpunkt auf dem Lageplan des Einkaufszentrums zu finden oder aber der Mutter am Telefon zu erklären, wo man sein Handy im Zimmer hat liegen lassen, bedarf es dabei vor allem Fähigkeiten der räumlichen Orientierung, die eine Komponente der Raumvorstellung darstellt.

Raumvorstellung wird im klassischen Sinne als die Fähigkeit, in der Vorstellung räumlich sehen und denken zu können, beschrieben. Diese Fähigkeit umfasst dabei den aktiven Umgang mit im Gedächtnis gespeicherten Vorstellungsbildern, ihre Umordnung und die Entwicklung von neuen Bildern in der Vorstellung (vgl. Maier 1999).

Maier unterscheidet dabei fünf „Subfaktoren“ räumlichen Vorstellungsvermögens und definiert in diesem folgende Komponenten, über die ein Mensch verfügen muss: 

Foto eines Plakats mit der Überschrift „Raumvorstellung“. Darauf kleben 3 mal 3 Karten mit Begriffen und Formulierungen in tabellarischer Anordnung. Erste Zeile von links nach rechts: „In meiner Vorstellung…“, „…bewege ich die Dinge nicht“, „…bewege ich die Dinge“. Erste Spalte von oben nach unten: „Ich befinde mich“, „…außerhalb der Situation“, „…in der Situation“. Zweite Spalte unterhalb der ersten Zeile von oben nach unten: „Räumliche Beziehungen“, „Räumliche Wahrnehmung“. Dritte Spalte unterhalb der ersten Zeile von oben nach unten: „a) Veranschaulichung (ich bewege Teile des Obiekts). B) Gedankliches Bewegen (Ich bewege das Objekt als Ganzes)“, „Räumliche Orientierung“.
 
  1. räumliche Wahrnehmung
  2. räumliche Beziehungen
  3. Veranschaulichung
  4. mentale Rotation
  5. räumliche Orientierung

Unter räumlicher Orientierung versteht man dabei ganz konkret die Fähigkeit, die eigene Person sowie Gegenstände gedanklich richtig in eine räumliche Situation einzuordnen und sich dabei real und mental im Raum zurecht finden zu können.

Um diese unterschiedlichen Fähigkeiten zu entwickeln und sich somit seine Umwelt zu erschließen, bedarf es der Anregung und der Förderung. Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie auch im Selbstlernmodul „Raumvorstellung“.
 
Für den Mathematikunterricht in der Grundschule werden zum Beispiel im Lehrplan NRW ganz konkret Kompetenzen in Bezug auf die Ausbildung räumlichen Orientierungsvermögens erwartet (vgl. MSW 2008, S.63). So sollen Kinder

Ende Klasse 2

  • Wege konkret und in der Vorstellung gehen
  • Wege und Lagebeziehungen zwischen konkreten oder bildlich dargestellten Gegenständen beschreiben

Ende Klasse 4

  • Sich anhand von Plättchen orientieren
  • Räumliche Beziehungen anhand von bildhaften Darstellungen, Anordnungen, Plänen, ... oder aus der Vorstellung beschreiben

In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Aufgaben und Handlungskontexten kommen dabei auch den prozessbezogenen Kompetenzen eine wichtige Bedeutung zu, da sie unter anderem auch die Ausbildung der inhaltsbezogenen Kompetenzen unterstützen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Darstellen und Kommunizieren, wenn z.B. Wege oder Positionen auf Stadt-/Lageplänen eingezeichnet oder beschrieben werden müssen, aber auch das Problemlösen, wenn systematisch kürzeste Wege o.ä. gefunden werden müssen (mehr dazu im Teil Unterricht).

Raum-Lage-Beziehungen - Fachwortschatz aufbauen

Um Wege zu beschreiben oder Positionen von Gegenständen oder Personen anzugeben, benutzten wir wie selbstverständlich Raum-Lage Begriffe wie z.B. links und rechts oder oben und unten. Jedoch stellt die korrekte Nutzung dieser Begriffe und auch den damit verbundenen relationalen Beziehungen (steht links von; befindet sich über) zentralen Lernstoff dar und müssen im Kontext des Aufbaus und der Weiterentwicklung eines Fachwortschatzes mit den Kindern konkret erarbeitet und thematisiert werden.

Für den Mathematikunterricht in der Grundschule sind dabei vor allem die folgenden Begriffe und Relationen von Bedeutung:

Begriffe

links - rechts
oben - unten
vorne - hinten
zwischen - neben

Relationen

steht links von - steht rechts von
befindet sich über/auf - unter
steht (da)vor - (da)hinter
liegt zwischen x und y - liegt (rechts/links) neben x
liegt in der Kiste - liegt außehalb der Kiste


Der Aufbau eines solchen Fachwortschatzes gelingt nur dadurch, in dem Gelegenheiten geschaffen werden, die Begrifflichkeiten zu nutzen und zu interpretieren.
 
Neben konkreten Aufgaben zu Stadtplänen (mehr dazu im Teil Unterricht) bieten sich dafür auch spielerische Übungen an:

  • So können Spiele wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“ dahingehend gestaltet werden, als dass die Kinder konkret mit Raum-Lage Begriffen beschreiben müssen, wo sich ihr Gegenstand befindet.
    „Ich sehe was, was du nicht siehst und das steht neben einem Buch und unter einem Regelbrett“ 

  • Aber auch in kleineren Bewegungsspielen kann die Einordnung dies in den Unterricht eingebaut werden. Dafür stellen die Kinder sich z.B. hinter ihren Stuhl und die Lehrerin/ ein anderes Kind gibt Anweisungen:
    „Stell dich VOR deinen Stuhl!“
    „Stell dich HINTER deinen Stuhl!“
    Oder aber ein Kind verändert seine Position und fragt: „Wo stehe ich jetzt?“ 

Dabei entstehen zudem Vorstellungsbilder, die wichtig sind für den Ausbau räumlichen Orientierungsvermögens.

Perspektiven einnehmen und Bezugssysteme nutzen

Bei der letzten Frage des Bewegungsspiels ("Wo stehe ich jetzt?") ist es wichtig, ob die Frage aus der Perspektive des Kindes beantwortet wird, das seine Position verändert hat (sich die anderen Kinder also in seine Position hineinversetzen müssen), oder aus der Perspektive des Kindes, das die Situation betrachtet und die Position von seinem Standpunkt beschreiben soll. Denn dies ist entscheidend für die korrekte Wahl der Raum-Lage Beschreibung (Steht das Kind im ersten Fall rechts neben dem Stuhl, muss es aus der anderen Perspektive "links neben dem Stuhl heißen"). Und auch das Eingangsspiel zeigt, dass die eingenommene oder die einzunehmende Perspektive eine zentrale Rolle spielt, wenn es darum geht, sich räumlich zu orientieren und Positionen zu beschreiben.

Dabei lasen sich verschiedene Bezugssysteme unterscheiden (vgl. Bender und Beller 2013, S. 126; vgl. Levinson 2003, S. 32). Zwei für die Grundschule Relevante sollen am folgenden Beispiel konkretisiert werden:

  1. Beim objektbezogenen Bezugssystem erfolgt der Bezug auf den eigenen Standort oder auf ein Objekt und ist eng mit der eigenen Körperwahrnehmung verbunden.
    "Der Ball liegt vor dem Auto"
    Abbildung: links: Basketball, rechts: rotes Auto.
     
  2. Beim betrachterzentrierten Bezugssystem bezieht die Person die eigene Position mit ein. 
    „Der Ball liegt links vom Auto“

Diese Unterscheidung ist auch von Bedeutung, wenn es darum geht Karten zu lesen oder Bewegungsanweisungen zu folgen. Am Beispiel der Wegbeschreibungen auf Plänen lässt sich der Unterschied des objektbezogenen oder des betrachterzentrierten Bezugssystems noch anders verdeutlichen:

  • Das objektbezogene Bezugssystem bedeutet ein sich hineinversetzen in eine (imaginäre) Figur. Diese läuft auf dem Plan als kleiner Punkt entlang. „Gehe geradeaus, drehe dich nach links, gehe weiter bis zur nächsten Kreuzung, biege dann nach rechts ab etc.“ sind Beschreibungen, die das objektbezogene Bezugssystem zugrunde legen. Eine solche Wegbeschreibung wird bewegungsgebunden genannt (vgl. Walther, Heuvel-Panhuizen, Granzer & Köller, 2008, S. 135).
  • Beim betrachterzentrierten Bezugssystem, ist der Plan die feste Bezugsgröße. Der Betrachter verwendet Beschreibungen wie: „Gehe nach oben, nach rechts, nach unten.“. Diese Richtungen beziehen sich auf den Plan, der beispielsweise fest auf dem Tisch liegt. Eine solche Wegbeschreibung wird kartengebunden genannt (vgl. ebd.).

Aufgaben zur räumlichen Orientierung im Mathematikunterricht der Grundschule sollten somit so konzipiert sein, dass die Notwendigkeit besteht, dass die Lernenden sich in unterschiedliche Situation hineinversetzen, verschiedene Perspektiven einnehmen, Bezugssysteme variieren und sie dabei gedanklich als Teil einer Konfiguration agieren müssen und diese beschreiben sollen.
Folgende Aufgabenbeispiele entsprechen typischer Aufgabe aus dem Bereich der räumlichen Orientierung

Wer sitzt wo?

Ausschnitt aus einem Schulbuch. Überschrift: „Orientierung im Klassenraum“. Aufgabe 1: „Erzähle.“ Darunter Abbildung von 3 Gruppentischen an denen unterschiedlich viele Kinder sitzen. Am Gruppentisch links sagt ein Kind: „Links von mir sitzt niemand.“. Am Gruppentisch rechts sagt ein Kind: „Rechts von mir sitzt Till. Links von mir sitzt Noah. Mir gegenüber sitzt Martin.“ Darunter ist ein Sitzplan von jedem Tisch abgebildet.
Wer sitzt wo?

Die Kinder sollen unterschiedliche Sitzkonstellationen beschreiben und dabei zum Beispiel auch Rätsel stellen "Wer sitzt links neben Mia und gegenüber von Ben?"

Was sieht der Fahrradfahrer unterwegs?

Abbildung einer Landschaft über die ein Weg führt. Auf dem Weg befindet sich eine Radfahrerin. Auf der Wiese neben dem Weg liegt ein Junge im Gras neben einem Fußball. Auf der anderen Seite sind eine Bushaltestelle und eine Pferdekoppel. Außerdem folgt eine Baustelle mit einem gelben Bagger weiter hinten.
Was sieht der Fahrradfahrer unterwegs?

Die Kinder sollen sich gedanklich auf dem Fahrradweg bewegen. Dabei sollen sie erläutern, welche Dinge der Jungen z.B. rechts oder links sehen kann. Dafür müssen sie sich gedanklich in den Jungen hineinversetzen und seine Perspektive auf dem Fahrradweg einnehmen.

Wer sieht was?

Foto eines Würfelgebäudes, das auf einem Planungsraster steht. Dieses wurde mit „N“, „O“, „S“ und „W“ entsprechend der Himmelsrichtungen beschriftet.
Wer sieht was?

Die Kinder sollen verschiedene Ansichten einem Würfelgebäude zuordnen, ohne selbst um das Würfelgebäude herumgehen zu können. Dafür müssen sie die verschiedenen Ansichten eines Würfelgebäudes einer der Himmelsrichtungen zuordnen (diese Ansicht hat man "im Westen").

Stell dir vor ...

Illustration von 2 Kindern, die sich einen Weg beschreiben. Der Junge sagt: „Gehe aus der Klasse, biege rechts ab. Gehe im Flur durch die 3. Tür links. In welchem Klassenraum bist du jetzt?“ Das Mädchen hat eine Gedankenblase mit einer undeutlichen Zeichnung des Schulflurs und einer Tür.
 

Kopfgeometrische Aufgaben zur Förderung des räumlichen Orientierungsvermögens stellen eine Möglichkeit dar, dass Kinder sich auch zunehmend losgelöst von Darstellungen und Material orientieren können.