„Und was muss ich mir darunter vorstellen?“
Was bedeutet Verstehensorientierung und warum ist das wichtig?
Die Beispiele sollen zeigen, dass es Kindern durchaus gut gelingt, Rechenanforderungen zu bewältigen, und dabei z.B. Rechenregeln zu befolgen und auch Beziehungen und Strukturen zu entdecken. Aber ebenso verdeutlichen sie auch, dass dies nicht immer verständnisbasiert gelingt, sie also nicht verstehen oder erklären können, warum sie so rechnen (dürfen) oder ihre Entdeckungen begründen können.
In Bezug auf langfristige (mathematische) Lernprozesse ist dieses Verständnis jedoch von großer Bedeutung. Denn nur eine verständnisbasierte Grundlage mathematischer Inhalte und Konzepte bildet das Fundament, um auch in komplexeren Zusammenhängen (auch in alltäglichen Situationen) Wissen aktivieren, anwenden und neu strukturieren zu können. Das Abrufen auswendig gewusster Ergebnisse oder die Ausführung vorgegebener Verfahren reicht hierzu nicht aus.
Verständnis ist also notwendig, um ein Weiterlernen zu ermöglichen. So resultieren (z.B. in höheren Klassenstufen) Schwierigkeiten im aktuellen Unterrichtsstoff oftmals darin, dass die Lernenden zum basalen Lernstoff nur unzureichende Vorstellungen besitzen und daher dazu neigen, sich ausschließlich an auswendig gelernten Regeln, Verfahren oder Fakten zu orientieren.
Unter Verstehensorientierung wird somit die durchgängige Orientierung der Lernangebote am konzeptuellen Verständnis der mathematischen Konzepte und Operationen verstanden, d.h. Lernende sollen nicht nur Rechenkalküle beherrschen lernen, sondern auch deren Bedeutung erfassen (vgl. Oehl 1962; vgl. Hiebert & Carpenter 1992; u.v.m.).
Wenn Unterricht immer nur darauf ausgelegt ist, Rechenfertigkeiten zu trainieren, und dafür das konzeptuelle Verstehen ausspart, können sich Lernende (aber auch Lehrende) damit durchaus wohl fühlen, denn sie kommen (oft schnell) zu richtigen Ergebnissen.
Aus diesem Grund ist den Beteiligten (in diesen Situationen) nicht unbedingt bewusst oder gegenwärtig, wie wichtig es wäre, neben der Aneignung dieser Rechenfertigkeiten auch einen Schwerpunkt auf das Verstehen mathematischer Inhalte (Begriffe, Operationen,...) zu legen (vgl. Prediger 2009), das notwendig ist, um zu einem späteren Zeitpunkt das Gelernte nicht nur wieder aktivieren, sondern auch auf diesem aufbauen zu können, um sich komplexere mathematische Inhalte zu erarbeiten.
Auch im Hinblick auf Lernende mit Schwierigkeiten beim Mathematiklernen wird Verstehensorientierung oft nicht wertgeschätzt und vor allem auf den Kalkül fokussiert, denn automatisierte Vorgehensweise geben „Sicherheit“ und „Erfolgserlebnisse“, die diese Kinder vor allem brauchen, um Motivation aufzubauen und Selbstvertrauen zu entwickeln.
Doch ohne bestimmte Verstehensgrundlagen, z.B. im Stellenwert- und Operationsverständnis kann dann ein Weiterlernen nicht nachhaltig gelingen. In den Lehrplänen wird deutlich, dass Inhalte spiralförmig aufgebaut sind und der Erwerb von Kompetenzen aufeinander aufbaut.
Schaut man über die Grundschulzeit hinweg, wird deutlich, dass nur wenn der basale Lernstoff der ersten vier Schuljahre erworben ist, auch „der Erwerb von weiterführenden mathematischen Inhalten in höherem Maß“ (Lorenz & Radatz 1993, 224; vgl. auch Moser Opitz 2007) gelingen kann.
Was bedeutet das in Bezug auf die Einstiegbeispiele?
Bewusst verdeutlicht der Einstieg an unterrichtsnahen Beispielen (exemplarisch an einer der vier Grundoperationen) die grundlegenden Anforderungen im Bereich Zahlen und Operationen, da vor allem die dort erworbenen Kompetenzen die zentralen Grundlagen arithmetischen Verständnisses bilden. Gleichwohl ist Verstehensorientierung auch in den anderen Inhaltsbereichen grundlegend für nachhaltiges Lernen.
Warum reicht es nicht, das Ergebnis zu kennen?
Aktivierung von Operationsvorstellungen
Um differenzierte Vorstellung der Rechenoperationen zu erwerben, ist neben der Thematisierung verschiedener Grundvorstellungen vor allem auch der Darstellungswechsel wichtig. Kinder sollen vielfältige Vorstellungen erwerben, sich im wahrsten Sinne des Wortes „ein Bild machen“ und nicht nur auswendig gewusste Zahlensätze reproduzieren. Nur so kann es gelingen, dass sie in vielfältigen Situationen Grundvorstellung zur Operation aktivieren und somit Handlungen, Bilder oder Geschichten mit den symbolischen Darstellungen/Termen in Verbindung zu bringen.
Warum muss ich wissen, warum ich das so zusammenfassen darf?
(Schnelles) Kopfrechnen
Gerade die Zusammenhänge von mathematischen Aufgaben (und damit einhergehend wie hier die Gültigkeit von Rechengesetzen) erkennen und ausnutzen zu können, ermöglicht es den Kindern, Aufgaben zu vereinfachen, Ergebnisse abzuleiten und flexibler zu rechnen. Dabei ist es auch hier wichtig, den Kindern anschauliche Beispiele zu geben (nutzen Sie beispielsweise Plättchendarstellungen, um zu verdeutlichen, warum 7 und 3 addiert werden müssen, aber nicht 6 und 6), damit die Kinder „erfahren“ wie die Zahlen und Aufgaben in Beziehung stehen, und was passiert, wenn diese umgeordnet oder zusammengefasst werden. Nur so können sie diese Erkenntnis übertragen. Sollte das allerdings nicht thematisiert werden, kann das auch zu falschen Übertragungen führen.
Warum muss ich (langfristig) wissen, warum sich das Ergebnis nicht verändert?
Flexible Nutzung halbschriftlicher Rechenstrategien
In diesem Beispiel wird besonders deutlich, dass ein gewisses Maß an Flexibilität beim Rechnen viele Vorteile hat. So wird die Aufgabe 128:16 durch gleichsinniges Teilen beider Elemente immer leichter zu berechnen. Durch eine Darstellung von acht 16ner Bündeln, acht 8er Bündeln, acht 4er Bündeln kann hierbei veranschaulicht werden, warum das Ergebnis konstant bleibt. Aber nicht nur kurzfristig ist dieses Beispiel den Kindern eine Hilfe – gerade auch beim Vorstellungsaufbau zu Brüchen und dem Kürzen von Brüchen, ist das Verstehen dieser Zusammenhänge bei der Division wichtig.
Warum muss ich (langfristig) erklären können, was die „kleine 1“ bedeutet?
Ausführung der schriftlichen Algorithmen
Oft erkennt man erst, wenn die Kinder Fehler machen, dass die schriftlichen Rechenverfahren eher mechanisch ausgeführt werden. Vor allem die häufig auftretenden Übertragsfehler zeigen, dass sich den Kindern die dahinterliegenden mathematischen Gesetzmäßigkeiten nicht bewusst sind. Andere typische Fehler resultieren aus Problemen beim Operationsverständnis (z.B. „immer größere minus kleinere Ziffern“ bei der schriftl. Subtraktion) oder dem Stellenwertverständnis (z.B. der Umgang mit „leeren Stellen“). Dies wiederum verdeutlicht, dass zum verständigen Erlenen der schriftlichen Algorithmen bereits erworbene Kompetenzen grundlegend sind. Für das Verständnis der schriftlichen Algorithmen ist eine Vernetzung verschiedener Wissenselemente (Operationsvorstellung, Stellenwertverständnis, mathematische Gesetzmäßigkeiten) nötig. Durch eine Verknüpfung mit halbschriftlichen Verfahren können die Zusammenhänge erarbeitet werden.
Konsequenzen für den Unterricht
Verstehensorientierung von Anfang an muss der Grundsatz für den Unterricht sein. Denn in den Beispielen wurde deutlich, dass z.B. der Aufbau tragfähiger Operationsvorstellungen und eines tragfähigen Stellenwertverständnisses die Grundlage jeden weiteren Rechnens bilden.
Dabei steht auch die anschauliche Darstellung mathematischer Gesetzmäßigkeiten, die gemeinsam im diskursiven Austausch mit den Kindern an geeigneten Beispielen erarbeitet und besprochen werden müssen, im Fokus, sodass die Bedeutung von Darstellungsmittel zum Verständnisaufbau eine zentrale Rolle spielt.
Darüber hinaus sollte das Einfordern von Erklärungen und Begründungen ein zentrales Element des Unterrichts nach dem Prinzip der Verstehensorientierung darstellen.
Um Gesetzmäßigkeiten zu durchdringen und einer mechanischen Ausführung von Rechenschritten vorzubeugen, sollen Kinder Antworten auf die Fragen wie „Wie hast du gerechnet?“ „Warum darf man so rechnen?“ „Was bedeutet... (die kleine 1)?“ geben können, um so ein tieferes Verständnis aufzubauen. Auch von den Kindern selbst durchgeführte Fehleranalysen ermöglichen es, diesen verständnisbasiert vorzubeugen.
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Orientierung an Verstehensprozessen für ein fundiertes und anschlussfähiges mathematisches Wissen unabdingbar ist. Dies kann durch Aufbau von Grundvorstellungen und Förderung von Operationsvorstellungen, produktives Üben, Nutzung von Zusammenhängen (z.B. bei Zahlenmauern), aber auch durch immer wieder gezielte Nachfragen realisiert werden. Dennoch soll nicht der Eindruck entstehen, dass sich Verstehensorientierung nur auf arithmetische Inhalte bezieht. Ebenso spielt diese Orientierung in den anderen Inhaltsbereichen eine zentrale Rolle.